- Löse dich von belastenden Gedanken –
Meine Klientin, ich nenne sie Agnes, ist 39 Jahre alt. Vor drei Jahren hat ihr Freund sie wegen einer anderen verlassen. Doch während er sein neues Leben genießt, kann sie das Geschehene nicht loslassen. Immer und immer wieder durchläuft sie dieselben Gedankenschleifen: „Wir waren doch glücklich, bis sie aufgetaucht ist“, „Wenn er sich doch einfach nur ein bisschen mehr Mühe gegeben hätte“, „Und was, wenn er mit ihr jetzt Kinder kriegt?“, „Es ist einfach nicht fair. Ich habe mich immer richtig verhalten und jetzt stehe ich wie, die Dumme da.
Bei jedem Treffen mit ihren Freundinnen und in jedem Telefonat mit ihren Eltern geht es wieder von vorne los. Monatelang. Jahrelang. Die kleinste Erinnerung an ihren Ex oder dessen Neue reicht, um ein Gedankenkarussell auszulösen, das sie für viele Minuten oder sogar Stunden nicht mehr verlassen kann.
Dann wirbeln immer die gleichen Gedanken in ihrem Kopf umher. Doch statt einer Antwort auf ihre Fragen zu finden, verliert sie sich nur tiefer und tiefer in einem Strudel schmerzhafter Erinnerungen und angsteinflößender Vorstellungen, die ihr nach und nach die Luft zum Atmen nehmen.
Im Alltag wird Agnes zunehmend unkonzentriert. Ihre Arbeit leidet, weil sie sich kaum noch auf das Wesentliche fokussieren kann. Sie braucht doppelt solange wie früher, um Arbeiten zu Ende zu führen – und dann haben sich meist einige Flüchtigkeitsfehler eingeschlichen. Das ist auch ihrem Chef und ihren Kolleginnen schon aufgefallen, die sich zunehmend über ihre Unzuverlässigkeit ärgern.
Selbst in der Nacht findet Agnes keine Ruhe. Stattdessen wälzt sie sich von einer Seite auf die andere, in dem verzweifelten Versuch, die quälenden Bilder in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen.
Kennst du das auch? Dass deine Gedanken immer und immer wieder um dasselbe kreisen und du einfach nicht abschalten kannst? Dass du Tag und Nacht von denselben schmerzhaften Gedanken heimgesucht wirst, die du einfach nicht abschütteln kannst?
Das, was wir im Kopf haben kann uns ganz schön belasten: Quälende Grübeleien und Selbstzweifel wegen dem, was war, lähmende Sorgen wegen dem, was kommen könnte. Ein Gedankenkarussell, das nie zur Ruhe kommt und uns in unseren Köpfen gefangen hält. Denn während wir in Gedanken immer wieder dieselben Schleifen durchlaufen, bleibt die Welt im Außen nicht stehen. Das Leben zieht an uns vorüber und mit ihm zahllose Gelegenheiten, die wir nicht einmal sehen, weil wir so in unsere Gedanken verwickelt sind. So lassen wir Chancen verstreichen, weil die Selbstzweifel im Kopf uns zurückhalten, stellen Beziehungen in Frage und sabotieren unsere eigenen Erfolge. Und während unsere persönliche Entwicklung zum Stillstand kommt, leidet auch unsere körperliche und psychische Gesundheit. Die ständigen Grübeleien über vergangene Entscheidungen oder zukünftige Möglichkeiten rauben uns Energie und führen zu einer emotionalen Erschöpfung. Chronischer Stress, Angstzustände, Verzweiflung, Hilflosigkeit und Depressionen können die Folge sein. Kein Wunder, dass so viele von uns mit aller Macht versuchen, ihre quälenden Gedanken loszuwerden. Wir möchten sie und den damit verbundenen Schmerz nicht mehr spüren.
Also versuchen wir, die belastenden Gedanken tief in unserem Inneren zu vergraben, in der Hoffnung, sie nie wiedersehen zu müssen. Aber leider lassen sich Gedanken nicht unterdrücken. Der Versuch, einen Gedanken zu unterdrücken, macht ihn nur präsenter. Das konnte der Psychologe Daniel Wegner in mehreren Studien eindrücklich zeigen. Es ist, als ob wir versuchen würden, einen Luftballon unter Wasser zu halten – so bald wir den Druck nachlassen, schießt er mit noch größerer Wucht zurück an die Oberfläche.
Genauso wenig ist es möglich, Gedanken komplett abzustellen. Wer hat nicht schon mal versucht, einfach an gar nichts mehr zu denken? Den roten Kinovorhang vor die Gedanken zu ziehen. „Sendepause – hier geht es erst morgen weiter“.
Dumm nur, dass unser Gehirn ein komplexes Organ ist, das rund um die Uhr arbeitet. Es ist schlicht unmöglich, Gedanken zum Stillstand zu bringen. Selbst in den entspanntesten Momenten arbeiten sie im Hintergrund weiter. Genau diese ständige Aktivität des Gehirns ist es, die uns nachts wachhält, wenn wir eigentlich schlafen möchten. Tagsüber können wir uns wenigstens ablenken. Ein kleines Gespräch mit den Kollegen, ein kurzer Blick aufs Handy – das alles kann helfen, die unangenehmen Gedanken kurzzeitig zu verdrängen. Ablenkung kann im Augenblick entlasten, aber sie ist keine nachhaltige Lösung. Einige Menschen greifen zu Alkohol oder Tabletten, um ihre Gedanken zu betäuben. Doch ganz abgesehen davon, dass die quälenden Gedanken mit aller Macht zurückkehren, sobald der Rausch nachlässt, handeln wir uns auf diese Weise nur weitere Probleme wie ein Suchtproblem ein. Die bittere Wahrheit ist, Gedanken lassen sich nicht kontrollieren. Sie kommen und gehen oft ohne unser Zutun. Mann könnte dir eine Pistole an den Kopf halten und trotzdem wärst du nicht in der Lage, einen bestimmten Gedanken aus deinem Kopf zu verbannen oder die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis zu löschen.
Der Versuch, Gedanken zu beherrschen, gleicht dem Kampf gegen Windmühlen. Er kostet uns jede Menge Energie, die wir eigentlich für die Bewältigung des Alltags oder die Erreichung unserer Ziele benötigen würden. Und leider wird dadurch alles noch schlimmer. Denn wann immer wir erfolglos versuchen, ein unangenehmes Gefühl oder einen unliebsamen Gedanken loszuwerden, entstehen neue unangenehme Emotionen: Wir werden wütend, weil dieser verfluchte Gedanke immer wieder kommt. Oder wir werden traurig, weil wir nicht in der Lage sind, ihm Einhalt zu gebieten.
All diese sekundären unangenehmen Emotionen erzeugen neues Leid. Leid, das wir uns ersparen könnten, wenn wir den sinnlosen Kampf gegen das, was sich nicht ändern lässt, aufgeben würden.
Den Kampf mit unliebsamen Gedanken aufzugeben, heißt nicht, zu resignieren und schweigend ihr Spiel zu ertragen. Es bedeutet, zu akzeptieren, dass wir Zweifel, Sorgen oder andere unangenehme Gedanken nicht am Auftauchen hindern können. Wir können aber letzten Endes selbst entscheiden, wie wir auf sie reagieren.
Gedanken haben nur so viel Macht über uns, wie wir ihnen geben.
Wir geben ihnen diese Macht, indem wir sie als Tatsachen betrachten, als allgemeingültige Wahrheiten und objektive Fakten, die dringend unsere Aufmerksamkeit benötigen. Doch diesen Anspruch können die wenigsten Gedanken gerecht werden. Denn im Grunde sind unsere Gedanken nur Ideen, die unser Verstand produziert. Sie werden durch alle möglichen Reize aus unserer Umwelt ausgelöst. Ein Geruch, der uns an etwas erinnert. Eine Bewegung, die unsere Aufmerksamkeit einfängt. Der Anblick eines Gegenstandes, der alle möglichen Assoziationen hervorruft. All diese Ideen, Eindrücke und Assoziationen durchströmen unser Bewusstsein.
Natürlich sind es vor allem die wiederkehrenden Gedanken, die uns quälen, die „Keiner mag mich“ – „Ich gehöre nicht dazu“ oder „Das schaffe ich nie“-Parolen. Doch auch sie sind keine in Stein gemeißelten Wahrheiten oder Handlungsanweisungen. Es sind bloß Denkgewohnheiten, die sich im Laufe der Zeit verfestigt haben, weil wir einseitig auf unsere Fehler und Schwächen geblickt haben.
Was viele nicht wissen: Unser Verstand ist keine fehlerfrei arbeitende Maschine. Er ist begrenzt in seiner Aufnahmefähigkeit, nimmt Informationen selektiv wahr, bewertet sie aufgrund zahlreicher Verzerrungen und passt Erinnerungen an aktuelle Bedürfnisse an. All diese Verarbeitungsprozesse können dazu führen, dass wir nur sehen, was wir sehen wollen, bestimmte Gedanken überbewerten oder falsche Schlussfolgerungen ziehen. Der sogenannte Bestätigungsfehler ( Confirmation Bias) ist ein weiter verbreitetes Phänomen, das in zahlreichen wissenschaftlichen Studien bestätigt wurde. Dieser Fehler beschreibt die Tendenz unseres Gehirns, vor allem solche Informationen zu bevorzugen, die unseren Erwartungen und Überzeugungen entsprechen. Alle anderen Informationen werden oft ausgeblendet und ignoriert. Wer glaubt, von niemandem gemocht zu werden, wird daher registrieren, wenn sich im Bus jemand von dem Platz neben ihm wegsetzt – und dies als Beweis dafür interpretieren, abstoßend zu sein. Er wird aber nicht bewusst wahrnehmen, dass die Kollegin bei der Arbeit ihn ständig anlächelt oder der Nachbar nach einem neuen Treffen fragt.
Unsere Gedanken spiegeln nicht 1:1 die Wirklichkeit wider. Oder anders ausgedrückt: Dein Verstand ist nicht in der Lage, objektiv zu beurteilen, ob du ein Versager bist oder ob dein Traum scheitern wird. Letzten Endes ist im Umgang mit unseren Gedanken deswegen vor allem eines von Bedeutung: wie nützlich deine Gedanken im Hinblick auf deine Lebensziele sind, also, zu welchen Ergebnissen sie konkret führen.
Was passiert, wenn du dem Gedanken, ein Versager zu sein, Glauben schenkst? Motiviert er dich, mehr zu lernen? Hilft er dir, Unterstützung zu suchen? Bringt er dich dazu, die erreichbaren Ziele zu setzen, damit du Erfolgserlebnisse sammeln kannst? Oder führt er vielmehr dazu, dass du dich Abend für Abend mit einem Becher Eis vor dem Sofa einigelst, mit niemandem sprichst und Einladungen vehement ablehnst?
Wenn uns Gedanken mehr Kummer bescheren, als dass sie uns helfen, lohnt es sich dann, ihnen zu gehorchen? Sollten wir ihnen dann so viel Raum in unserem Leben geben? Oder ist es an der Zeit, die Kontrolle zurückzugewinnen und uns aus dem selbst geschaffenen Gefängnis in unseren Köpfen zu befreien?
Wenn uns belastende Gedanken vereinnahmen, ist es, als würde unser Verstand lebensgroße Plakate vor unsere Augen halten, auf denen in Leuchtschrift steht: „Du bist nicht liebenswert!“ oder „Er hat bestimmt schon eine andere“. Diese inneren Plakatwände halten unsere Aufmerksamkeit gefangen und versperren die Sicht auf das Hier und Jetzt.
Doch was passiert, wenn du diese Plakatwände wegträgst und 20 Meter entfernt an eine Litfaßsäule lehnst? Erscheint dir jetzt noch so wichtig, was darauf steht? Wirken sie noch genauso bedrohlich?
Um dich aus dem Griff belastender Gedanken zu lösen, lautet die oberste Regel, Abstand zu ihnen herzustellen. Denn wenn wir unseren Gedanken nicht länger gehorchen, können sie weder unsere Gefühle noch unsere Handlungen steuern. Vor allem aber können sie uns keinen Schmerz mehr zufügen. Der Abstand zu unseren Gedanken ermöglicht es, handlungsfähig zu bleiben und die Kontrolle über unser Leben zurückzugewinnen. Diese Distanz zu deinen Gedanken kannst du herstellen, indem du den Stimmen in deinem Kopf eine eigene Identität verleihst. Du kannst dir dann anhören, wenn die „traurige Tamara“ sich mal wieder über ihren Exfreund ausweint, aber dennoch entscheiden, den Abend bei einem Glas Wein ausklingen zu lassen und an ein neues Date denken. Genauso kannst du leichte über den Kommentar eines „kritischen Kurts“ hinwegsehen, der meint, dass dir die neue Bluse nicht steht. Es ist nur Kurt und er hat sowieso immer an allem etwas auszusetzen. Du entscheidest – und nicht Kurt oder Tamara – ob du das Kleid trägst oder ob du über deinen Ex nachdenken möchtest.
Wir müssen belastende Gedanken weder loswerden noch verändern. Es reicht, wenn wir sie mit Abstand betrachten, um ihnen die emotionale Schlagkraft zu nehmen. Und da sie weder wahr noch wichtig sein müssen und meist nur aus verzerrten Schlussfolgerungen und festgefahrenen Denkgewohnheiten bestehen, können wir auch aufhören, unser Verhalten nach ihnen auszurichten.
Mit jedem Zentimeter Abstand, den wir zwischen uns und unseren Gedanken herstellen, gewinnen wir ein Stück Freiheit zurück. Diese Freiheit erlaubt es uns, uns auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist: das Leben im Hier und Jetzt.
Ihre Silvia Exner